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Über das Archiv

Aufbau und Geschichte des Archivs

Die Grundlage zum Archiv legte Peter Bulthaup selbst, als er 1997 vor einer schweren Operation die Eigentums- und Verwertungsrechte an seinen sämtlichen wissenschaftlichen Arbeiten dem Gesellschaftswissenschaftlichen Institut übertrug, dem er als Beirat angehörte. Aufgrund einer Reihe von Vorerkrankungen war der Ausgang des Eingriffs durchaus ungewiss, und Bulthaup wollte die Manuskripte, die er im Laufe seines Lebens angesammelt hatte, im Zweifelsfall in den Händen derer wissen, die von ihm gelernt hatten und die bereits 1996 die zweite Auflage des 1973 zuerst erschienen Bandes ‚Zur gesellschaftlichen Funktion der Naturwissenschaften‘ herausgegeben hatten. Zur faktischen Übertragung und Aufarbeitung dieses Vorlasses kam es allerdings erst viel später, nach Bulthaups Tod im Jahr 2004. Zuvor erschien noch unter seiner Mitarbeit die Aufsatzsammlung ‚Das Gesetz der Befreiung‘ (1998).

Dieser Band enthielt eine Reihe von zuvor verstreut erschienen Aufsätzen sowie mehrere bis dahin unveröffentlicht gebliebene Schriften. Das Besondere der Situation war und ist, dass es eine Vielzahl solcher nahezu druckfertiger aber unveröffentlichter Arbeiten gibt, von offenen Briefen über Vortragsmanuskripte, Aufsätze, Rundfunkmanuskripte und Thesenpapiere bis hin zu ausformulierten Vorlesungen und dies alles über eine Zeitspanne von ca. 50 Jahren. Diese Situation entstand deshalb, weil Bulthaup in diesen Arbeiten sowohl in der Sache als auch in der Sprache keinerlei Kompromisse eingeht. Sie sind präzis, strikt und ohne Redundanzen formuliert, so dass auch philosophisch gebildeten Lesern ein hohes Maß an Konzentration abverlangt wird. Das gilt auch für die mündlich vorgetragenen Arbeiten. Sachlich vertritt Bulthaup in ihnen eine Form kritischer Theorie, die einerseits durch intransigentes Festhalten an dem Gedanken der Negativität kritischen Denkens ausgezeichnet ist, andererseits durch den im Studium der Naturwissenschaften gebildeten Anspruch auf Wahrheit der Erkenntnis, den er in der Negativität philosophischer und gesellschaftstheoretischer Erkenntnis nicht weniger gelten ließ. Die Kritik im Einzelnen hat immer die systematischen Fehler im Ganzen im Blick, so dass Kritik nie reformistisch oder revisionistisch auftritt, sondern mit der Absicht, die Einsicht in die Gründe des Falschen durch eine Verbindung von Kritik der politischen Ökonomie und Philosophie zu erreichen. Das erkennende Denken sollte sein Maß am wissenschaftlichen Denken nehmen, als dessen Modell die Naturwissenschaften dienten, die zugleich als Bedingung des Herausarbeitens aus der unmittelbaren Natur ein Modell von Freiheit und unter Berücksichtigung der gesellschaftlichen Zwecke ihrer Verwertung als Modell von Freiheit in (noch) verkehrter Gestalt dienten.

Mit dieser Form kritischer Theorie, die an der Adornos nichts nachließ, sondern sie eher noch präzisierte und zuspitzte, geriet Bulthaup relativ schnell in Opposition zu den meisten übrigen Adorno-Schülern. Vor allem aber geriet er in Opposition zu dem im engeren Sinn bürgerlichen akademischen Betrieb, gegen dessen Herkunft aus den autoritären Ordinarien-Universitäten Bulthaup ebenso polemisierte wie gegen seine Aufweichung im Strom der Hochschulreformen und langen Märsche der sich zunehmend anpassenden Altachtundsechziger. Daher ergaben sich wenige Möglichkeiten zur Publikation und wenn, dann oft unter erheblichen Schwierigkeiten mit den Herausgebern oder Co-Autoren. Nicht zu unterschätzen ist auch der Bedeutungsverlust der kritischen Theorie dieser Prägung in der akademischen Öffentlichkeit nach dem Tod Adornos und Horkheimers Weggang aus Frankfurt.

Die ‚literarische Produktion‘ Bulthaups war ohnehin, relativ zu vielen Kollegen, eher gering, denn vom Prinzip ‚publish or perish‘ hielt er auch nichts. Allerdings sind in der frühen akademischen Zeit zwischen 1968 (Promotion in Chemie und erste Lehraufträge) und ca. 1980 eine ganze Reihe von kleineren Arbeiten zur Naturphilosophie, Erkenntnistheorie, praktischer Philosophie und Ästhetik entstanden. Aus der Studienzeit finden sich ebenfalls bereits etliche Entwürfe in unterschiedlichen Stadien. In der Zeit nach 1982 nimmt diese Textsorte deutlich ab. Mit Beginn der Lehrtätigkeit als Professor für Didaktik der Naturwissenschaften in Darmstadt 1973 und dann für Philosophie in Hannover 1975 begann Bulthaup jedoch, Vorlesungen in druckfertiger sprachlicher Form zu verfassen. Diese Vorlesungen, die handschriftlich mit Tinte in Ringblöcke geschrieben wurden, sind sämtlich im Archiv erhalten. Es handelt sich um 237 Ringblöcke, mit je bis zu 50 beschriebenen Seiten. Hinzu kommen die oft umfangreichen Zitate, die im Manuskript nur durch Stellenangaben vermerkt sind. Ihr genauer Wortlaut (Länge und Auslassungen) wird bei früheren Vorlesungen rekonstruiert werden müssen; für die späteren Vorlesungen liegen in vielen Fällen Tonbandaufzeichnungen vor, vereinzelt ab 1982, vermehrt ab 1987. Es handelt sich um insgesamt ca. 600 Tonbandkassetten mit ungefähr 700 Stunden Tonmaterial. Manche dieser Mitschnitte liegen im Archiv bereits als Transkriptionen vor.

Abgesehen von einigen Vortragsmanuskripten und Aufsätzen, die in den Ringblöcken mit enthalten sind, finden sich diese Textsorten vorwiegend in rund 100 Jurismappen, die von Bulthaup über Jahrzehnte hinweg offenbar teilweise wahllos befüllt worden waren, abgesehen von der sehr frühen Zeit bis Anfang der 1970er Jahre, aus der einige thematisch oder wenigstens zeitlich geschlossene Sammlungen existieren. Hinzu kommen 15 Aktenordner mit ähnlichen Materialien. Diese Ordner und Mappen sind jedoch durchsetzt mit Seminarmitschriften, Seminarvorbereitungen, Notizen bis hin zum sprichwörtlichen Einkaufszettel, Briefen, Zeitdokumenten, Lebenszeugnissen, Gutachten sowie Arbeiten von fremder Hand in jeglicher Gestalt. Außerdem finden sich Entstehungsstufen derselben Arbeit von der Notiz über Entwürfe, Rohfassungen, Reinschriften, Typoskripte mit und ohne Anmerkungen bis zur Druckfahne und zum Belegexemplar, und dies alles verteilt über eine Vielzahl von Mappen und gelegentlich unter variierenden Titeln. Im übrigen gibt es, vor allem aus den 1950er und 1960er Jahren eine ganze Reihe von literarischen Entwürfen, vom Gedicht bis zur Kurzgeschichte.

Diese Materialien kamen also im Frühjahr 2005, vor der Auflösung des außerhalb der Wohnung angemieteten Arbeitszimmers, aus Frankfurt am Main in den Besitz des Gesellschaftswissenschaftlichen Instituts. Ein kleinerer Teil, der sich in der 2000 aufgelösten hannöverschen Wohnung befunden hatte, war schon damals ins Institut gebracht worden. Die Frankfurter Privatbibliothek gelangte ebenfalls 2005 als Schenkung in die Niedersächsische Landesbibliothek (jetzt auch Gottfried Wilhelm Leibniz Bibliothek), wo sie als „Sammlung Bulthaup“ geführt wird. Die Bücher sind in den Lesesaal ausleihbar. Ein Teilkatalog für die Sammlung Bulthaup kann bislang nicht erstellt werden; aber die Bücher können über den Katalog der GWLB unter der Signatur „Sammlung Bulthaup“ eingesehen werden.

Die Arbeiten im Archiv dienten bisher vor allem der Sicherung des Materials sowie seiner internen Erfassung. Bislang wurden sämtliche Manuskriptseiten aus den Ringblöcken gescannt. Die Scans wurden mehrfach überprüft, in einer Datenbank erfasst und mit den Daten der Veranstaltungen, der Tonbänder sowie der Transkriptionen verknüpft. Sämtliche Tonbänder wurden (in Echtzeit!) auf digitales Format überspielt. Die losen Materialien aus den Jurismappen und Ordnern wurden thematisch und nach Textsorten sortiert, in säurefreie Archivmappen umgelagert und archivarisch in die Datenbank aufgenommen. Bislang sind ca. 500 Einzelstücke in ca. 130 Mappen erfasst. Dabei werden vorläufig ausschließlich solche Stücke erschlossen, die von Bulthaup selbst stammen und wissenschaftliche Informationen tragen. Dabei fallen vor allem Briefe und Lebenszeugnisse heraus, aber auch manche Notizen. ‚Einkaufszettel‘ werden nur archiviert, wenn sie, etwa auf der Rückseite, als Träger wissenschaftlicher Notizen dienen. Auch diese Stücke werden sämtlich elektronisch gesichert.

Die Originale sind seit 2013 in der Handschriftenabteilung der Niedersächsischen Landesbibliothek eingelagert und durch die Mitarbeiter des Archivs im Online-Katalog eingepflegt worden. Die Dokumente können online und in der Handschriftenabteilung genutzt werden (http://www.leibnizcentral.de/).

Das entferntere Ziel ist die Publikation wenigstens einiger Arbeiten. Das hängt außer vom Arbeitsaufwand von vielerlei ganz äußerlichen Bedingungen ab. Jedenfalls wurde bereits eine Formatvorlage entwickelt, die auf alle vorhandenen Transkriptionen – und alle jene, die jetzt nebenher bereits erstellt werden – angewendet wird. Diese Formatvorlage erlaubt später die komfortable Umwandlung in beliebige Satzformate. Die Entscheidungen zur Form der Publikation – von der Online-Veröffentlichung bis zur Buchreihe kommt prinzipiell alles in Frage – soll eine möglichst vielfältig besetzte konstituierende Herausgebersitzung nach Abschluss der Archivierungsarbeiten beraten.